Mit dem Rad ging es heute auf die letzte Etappe: Von North Berwick nach Berwick-Upon-Tweed, der schottisch-englischen Grenzstadt. Der Gesamtplan für den Tag war etwas kompliziert, aber es kam ohnehin ganz anders.

Der etwas komplizierte Gesamtplan sah wie folgt aus: Von Berwick-Upon-Tweed wollte ich mit dem Zug nach Newcastle. Klingt nicht kompliziert, das ist richtig. In Newcastle allerdings hatte ich mir über warmshowers.org einen Ort organisiert, an dem ich mein Rad Horst und große Teile meines Gepäcks für ein paar Tage unterstellen konnte. Der nächste Schritt wäre dann gewesen, von Newcastle mit nur einer Tasche am gleichen Abend mit dem Zug zurück nach Edinburgh zu fahren. Dort hatte ich eine Wohnung für ein langes Wochenende gemietet, weil mich mein bester T. dort besuchen würde. Nachdem er dann am Sonntag wieder nach Hamburg fliegen würde, würde ich meinerseits wieder den Zug zurück nach Newcastle nehmen, dort noch eine Nacht in unmittelbarer Nähe von Horst verweilen, um dann am Montagnachmittag die Fähre nach Amsterdam zu nehmen. Das klingt schon kniffliger, hm? Und in der Rückschau auch ziemlich unnötig. Aber später mehr dazu.

Der Weg von North Berwick nach Berwick-Upon-Tweed… ja, es ist verwirrend, dass die beiden Ort so ähnlich klingen. Es wird aber auch kaum besser, wenn man genauer hinsieht, denn die Situation um Berwick (Upon-Tweed, nicht North) ist vertrackt. Zwei Phänomene mal als Beispiel für die gesamte Historie an dieser Stelle: Erstens ist Berwickshire, also der historische, heute nicht mehr als solcher existente Verwaltungsbezirk, zwar in unmittelbarer Nähe sowohl von North Berwick, als auch Berwick-Upon-Tweed, und letzteres ist auch namensgebend für das County, aber beide Orte liegen nicht in diesem Bezirk. Das liegt an der äußerst wechselvollen Geschichte von Berwick-Upon-Tweed, das im Laufe der Jahrhunderte regelmäßig zwischen England und Schottland hin und her getauscht worden ist, während das Gebiet Berwickshire aber weiterhin zu Schottland gehörte. Für ziemlich neblige Klarheit sorgte dann aber ein Vertrag zwischen England und Schottland aus dem frühen 16. Jahrhundert, der besagte, dass Berwick zwar zu England gehört, aber nicht in England liegt. Genau dieser Vertrag sorgte dann im Folgenden auch dafür, dass es eine Sonderstellung von Berwick-Upon-Tweed in Bezug auf Gesetzgebung gab, was mich zu der zweiten Anekdote bringt. So musste wegen dieser Sonderstellung immer auf die besondere Zustimmung von Berwick hingewiesen werden, wenn das Königreich etwas erklärte: Den Weg, das mit den Blumen und den Bienen oder auch Krieg. In diesem spannenden Fall ist der Krim-Krieg von 1854 gegen Russland gemeint, der von Königin Viktoria nicht nur im Namen von England, sondern auch explizit im Namen der kleinen Stadt Berwick-Upon-Tweed erklärt worden ist. Der ganze Fall erinnert ein wenig an die Geschichte aus „Die Maus, die brüllte“, in der ein Zwergstaat den USA den Krieg erklärt und diesen nach diversen Irrungen sogar gewinnt. Nun, gewonnen hat Berwick nicht, aber nachdem 1856 der Friedensvertrag unterschrieben wurde und auf diesem Berwick nicht vermerkt war, war die Kleinstadt für 110 Jahre ganz alleine mit Russland im Kriegszustand. Erst in den 1960ern besuchte ein russischer Offizieller den Bürgermeister von Berwick und man schloss formal Frieden, woraufhin der Bürgermeister dem russischen Volk ausrichten ließ, dass es fortan wieder ruhig schlafen könne. Eine wunderbare Geschichte, die verständlicherweise zum funkelnden Mythenschatz der Stadt gehört.

Schade eigentlich, dass sie weder wahr ist noch relevant wäre, wenn sie denn wahr gewesen wäre: Ein Fernsehsender fand 1970 heraus, dass Berwick nicht einmal auf der Kriegserklärung erwähnt wurde und wäre dem so gewesen, dann hätte der Wales and Berwick Act aus dem 18. Jahrhundert ernsthafte internationale Verwerfungen ausgeschlossen, da in dieser Verordnung die Gesetzeseinheit von England und Berwick beschrieben wurde.

Der Weg von North Berwick nach Berwick-Upon-Tweed war wesentlich härter, als ich es gedacht hatte. Ungefähr 20 km vor Schluss ereilte mich sogar noch ein letztes Mal das Schicksal, dass ich nicht mehr in der Lage war, per Pedalumdrehung weiterzukommen und absteigen musste. Eine richtig steile Rampe traf mich unvorbereitet und völlig schwungfrei, aber das war auch irgendwie eine schöne Erinnerung an die vielen Hügel, die ich hinter mir gelassen hatte. Wenige Meter weiter ging es dann zwar noch für eine ganze Zeit bergauf, aber in einem Maße, dass mir zu diesem Zeitpunkt keine Kopfschmerzen mehr machte. Auf dem Plateau des Hügels gab es einige Windräder. Und ich dachte noch einmal an Don Quixote, ritt beherzt auf sie zu und stieß im Bewusstsein, den Zielstrich kurz vor mir zu haben, einige Freudenrufe aus. Die Windräder schmunzelten nur kurz und winkten mir dann zum Abschied.

Kurze Zeit später passierte ich dann irgendwie das Ziel:

 

Ich übernachtete ungefähr 5 km von Berwick entfernt in einem B&B. Früh am nächsten morgen rollte ich die letzten Meter Richtung Berwick und setzte mich noch mal in ein Café, um ein bisschen zu schreiben. Als ich nach 1,5 Stunden aus dem Café trat, hatte sich die Welt verändert. Der Himmel sah anders aus, ein gelblich-trüber Schleier, aber vor allem war er wieder da: Wind! Und nicht so ein bisschen Gegenwind, wie er mir gelegentlich in der letzten Woche zugesetzt hatte, sondern ein solcher, der es schon schwierig machte, das Rad zu schieben. Anderen Passanten sah ich an, dass es auch ohne Rad kein Vergnügen war. Dicke Äste lagen herum und ich hatte ein mulmiges Gefühl auf dem Weg zum Bahnhof. Starker Wind war zwar angesagt gewesen, aber ich muss zugeben, dass ich mich leichtfertiger Weise nicht eingehend darüber informiert hatte. Sturm Ali hatte Irland, den Süden Schottlands und den Norden Englands fest im Griff. Mit bis zu 160 km/h war er tatsächlich fast so schnell, dass er das Licht ausschalten konnte und im Bett war, bevor es dunkel wurde. Da fällt mir gerade ein, dass ich später unbedingt mal wieder den phantastischen Film When We Were Kings, der 1997 den Oskar als beste Dokumentation gewann, ansehen sollte. Ali hatte schon echt Charisma.

Als ich in Berwick am Bahnhof ankam, hielt ich immer noch meinen Plan für einen guten. Ich kaufte also ein Ticket samt Reservierung für das Rad nach Newcastle, holte mir ein Sandwich und eine Dose Tango  („You know, when you’ve been tango’d!“) und wartete einfach auf meinen Zug, der eine halbe Stunde später eintreffen sollte. Es wurde allerdings relativ schnell klar, dass das ganz sicher nicht passieren würde. Da ich mit Horst über einen Aufzug zum Gleis musste, war ich schon etwas früher dort, was sich als Glück herausstellte, denn während sich die meisten Gestrandeten im Hauptgebäude drängelten, saß ich mit vielleicht fünf oder sechs anderen im Warteraum am Bahngleis. Dort wurden wir vom Bahnpersonal mit Keksen, Chips und Wasser versorgt, während sie uns immer wieder mitteilen mussten, dass der gesamte Bahnverkehr zwischen Newcastle und Edinburgh zusammengebrochen wäre. Die Stunden vergingen und die Lage blieb unverändert. Wenn man nach draußen ging, hatte man das Gefühl, dass der Sturm selbst nicht mehr das Problem war. Es war natürlich sehr zugig, aber es muss zu diesem Zeitpunkt bereits größere Störungen an den Oberleitungen gegeben haben. Man hörte zudem Gerüchte von einem entgleisten Fahrzeug auf der Strecke. Es wurde irgendwann klar, dass ich mindestens einen Plan B und C brauchen würde. Plan B war, so lange am Bahnhof auszuharren, bis vielleicht doch noch ein Zug nach Edinburgh fahren würde. Immer wieder wurde angedeutet, dass man an dieser Lösung arbeiten würde und immerhin war ein Zug am Bahnhof in Berwick quasi gestrandet, der Edinburgh als Ziel hatte. In diesem Moment wurde mir erst klar, wie hanebüchen die ursprüngliche Idee eigentlich war, so dass Plan B augenblicklich zu Plan A wurde. Plan C, den ich nunmehr zu Plan B beförderte, wäre gewesen, in Berwick-Upon-Tweed zu übernachten und auf den nächsten Morgen zu hoffen.

Bemerkenswert war, dass sich am gesamten Bahnhof keinerlei Unruhe zeigte. Alle Menschen, die ich dort sah, waren angesichts der Situation überaus entspannt. Es gab kein Murren dem Bahnpersonal gegenüber, aber auch keine spontanen Übersprungsaktionen, also keine schlechten Witze, keinen Streit oder Schlimmeres. Alle saßen einfach da und unterhielten sich ruhig oder spielten mit ihren Smartphones herum. Weiterhin hatte ich das Gefühl, dass die Bahner viel dazu beigetragen haben. Jede Frage wurde nicht nur geduldig gehört, sondern auch engagiert beantwortet, selbst wenn sie zum zehnten Mal gestellt wurde. Ich ging zum Beispiel irgendwann zurück in die Haupthalle, um mich am Schalter nach der Ticketsituation zu erkundigen, denn mein Ticket nach Newcastle war zu diesem Zeitpunkt definitiv nutzlos. Ich bekam natürlich sofort mein Geld zurück, aber als ich fragte, ob denn die Möglichkeit bestünde, dass es noch nach Edinburgh gehen könnte, zuckte der Herr hinter der Scheibe nicht einfach mit den Schultern und blickte mich müde-mitleidig an, sondern griff zum Telefon und erfragte die aktuelle Lage, die er aber leider in diesem Moment noch nicht positiv beantworten konnte, doch er machte mir Hoffnung. Wie oft wird er meine Frage in den letzten Stunden gehört haben? Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, sie erneut mit allem Ernst zu bearbeiten. Danke dafür! Ich ging zurück zur Wartehalle am Gleis und gerade als ich dort ankam, fragte ein Schaffner aus dem Zug, der dort am Gleis stand, ob ich auch nach Edinburgh wollte. Der Zug würde sich gerade bereit machen, offensichtlich waren die gröbsten Probleme beseitigt. Ich wies kurz darauf hin, dass ich gerade nicht in Besitz eines entsprechenden Billetts sei, was er aber mit einem Lächeln und der Antwort quittierte, dass er völlig sicher sei, dass niemand mehr heute die Lust verspürte, so etwas zu kontrollieren. Und so rollte ich dann nicht einmal besonders spät und wie ich in meinem Nachrichtenverlauf rekonstruieren kann um 19:04 in den Bahnhof von Edinburgh ein. Glück Auf!

Ich versuche, mich daran zu erinnern, warum ich überhaupt auf dieses Hin und Her Berwick – Newcastle – Edinburgh – Newcastle gekommen bin. Klar war, dass T. mich in Edinburgh besuchen würde. Aber ich hatte ursprünglich mal den Plan, dass Newcastle der Zielort meiner Reise sein sollte. Später wurde mir dann allerdings klar, dass Berwick eigentlich der viel sinnvollere Ort wäre, um die Reise rund um Schottland für beendet zu erklären, da dieses eben genau an der Grenze liegt. Als ich dann auch noch feststellte, dass es per Rad doch eine ganze Tagesetappe wäre, von Berwick nach Newcastle zu kommen, habe ich irgendwann in der Woche zuvor beschlossen, dass ich das auch genauso gut mit dem Zug machen könnte und dafür lieber Qualitätszeit mit Golf verbringen könnte. Ausführlich habe ich zuletzt darüber berichtet, dass dieser Plan in North Berwick vollständig aufgegangen ist, aber darüber habe ich dann vergessen, noch mal kurz darüber nachzudenken, ob der Zick-Zack-Kurs überhaupt noch notwendig wäre. Zudem habe ich mich so darüber gefreut, dass ich jemanden auftreiben konnte, der einfach so den guten Horst für ein paar Tage verpflegt hätte, dass ich diesen schönen Teilaspekt des Plans nicht mehr ändern wollte. Einmal mehr wird deutlich: Pläne sind nicht der Schatz, sondern lediglich eine Schatzkarte. Um zum Schatz zu kommen, muss man nur wissen, wo das Kreuz ist, den Weg kann man dann nach den Gegebenheiten ändern. Ich habe so viele Projekte in meinem Berufsleben gesehen, die das anders gesehen haben und in denen der Plan das eigentliche Ziel zu sein schien. Das habe ich hier mal einen Augenblick vergessen, aber Ali ist ja glücklicherweise noch mal durch den Hurrikan gelaufen, ohne nass zu werden und hat mich daran erinnert.

Was jetzt noch kam, war ein sehr entspanntes Wochenende bei wunderbarem Wetter in Edinburgh. Dort gab es klare Blicke vom Hausberg herab:

 

Den Friedhof der Kuscheltiere innerhalb der Mauern des Edinburgh Castle:

 

Und ein paar Seifenblasen, von denen es ja nie genug geben kann:

 

Zuletzt habe ich noch einen äußerst sonnigen Tag in Newcastle verbracht, den ich mit einem tollen Besuch im BALTIC Center vertrödelte, das ich vor vielen Jahren schon mal besucht und in Erinnerung behalten hatte, aber nicht mehr wusste, warum. Jetzt weiß ich es wieder: Weil es ein schöner Ort für zeitgenössische Kunst ist.

 

Dann ging es mit einem letzten knapp einstündigen vollgepacktem Ritt zur Fähre.

 

Daher:

 

Kommentare   

#1 Marco 2018-11-05 12:25
Ach ja, beim Blick vom Hausberg wird mir klar, dass ich da auch mal wieder unbedingt hin muss.

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